Der Tod lehrt uns zu leben
Wenn der Tod in unser Leben tritt, bringt er meist Trauer und Leid. Doch er erinnert uns auch daran, wie kostbar das Leben ist. In der Katha-Upanishad verspricht er, dass wir unsterblich sind.
Es ist eine Binsenwahrheit: Das einzig Sichere in unserem Leben ist der Tod. Schon der römische Philosoph Seneca hat gesagt: «Bevor wir uns auf das Leben vorbereiten, müssen wir uns auf den Tod vorbereiten.» Doch wir sind Weltmeister:innen darin, vor unserem sicheren Ende hier auf Erden die Augen zu verschliessen – seit Menschengedenken: Bereits im 2000 Jahre alten indischen Epos Mahabharata ist das ein Thema. Die Weisheit tritt in Form eines Kranichs auf und fragt den Krieger Yudhishthira, was für ihn das Wundersamste aller Dinge in der Welt sei. Dieser antwortet: «Dass kein Mensch denkt, er selber könne sterben, obgleich er doch alle Menschen um sich herum sterben sieht.»
In unserer Gesellschaft sehen wir die Menschen um uns herum kaum mehr sterben. Sterben geschieht mehrheitlich in Spitälern und Pflegeheimen. Wir können dem Tod gut ausweichen – bis wir durch den Verlust eines geliebten Menschen selbst betroffen sind und mit der Trauer, dem Schmerz und der Leere klarkommen müssen, welche die Verstorbenen in unserem Leben hinterlassen. Die Dichterin Mascha Kaléko sagt denn auch: «Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der anderen muss man leben.»
Das Geschenk des Todes
Oft ist das Leben nach einem schweren Verlust schöner, kostbarer, bewusster. Das erlebte ich beim Tod meiner Mutter. Da war die Traurigkeit über ihre Abwesenheit in unserem Leben und zugleich die Schönheit des Seins im Hier und Jetzt: die Frische der Luft beim Einatmen, das Leuchten der Krokusse auf dem Friedhof, die Wärme der Sonnenstrahlen auf der Haut.
Dieses verstärkte Bewusstsein dafür, wie wertvoll das Leben ist, ist das Geschenk des Todes. Denn der Tod nimmt nicht nur, er gibt auch. Wenn wir uns unserer eigenen Sterblichkeit bewusst sind, leben wir intensiver und verschwenden unser gegenwärtiges Leben nicht. Nutzen die Zeit, Beziehungen lebendig zu gestalten und uns mehr auf das Wesentliche zu fokussieren. Deshalb nimmt der Tod in allen spirituellen Lehren eine zentrale Rolle ein.
Die Katha, die beliebteste der Upanishaden (Jahrtausende alte Schriften, die den Höhepunkt des philosophischen Denkens in Indien markieren), versucht eine Antwort darauf zu geben, was Leben und Sterben ist. Sie lässt dazu den Todesgott Yama als Lehrer auftreten. In seinem Buch «Du bist unsterblich, sagt der Tod» geht der Yogaphilosophie-Experte Ralph Skuban auf diesen Schlüsseltext der Upanishaden zur Vergänglichkeit ein und setzt sich mit den grossen Fragen der Menschheit auseinander: Was ist der Zweck meines Lebens? Was heisst Sterben? Was an mir ist das, was ich bin?
Alles ist ein Kreislauf
Er beschränkt sich dabei nicht nur auf sein theoretisches Wissen, sondern stützt sich auch auf seine langjährige Erfahrungen als Leiter eines Heimes für Demenzkranke. «Ich sass oft am Bett eines sterbenden Menschen und sah, wie er seinen letzten Atemzug tat. Gerade hatte er noch gelebt und dann war da nur noch ein toter Körper. Ich habe mich immer gefragt: Was ist da gerade gegangen?», erzählt er.
Dass etwas gegangen ist – die Seele, unser göttlicher Funke oder wie wir es nennen wollen -, steht für Ralph Skuban ausser Zweifel. Denn die Idee, dass unser Leben einen fixen Startpunkt A hat, vor dem gar nichts war, und einen Endpunkt B, nach dem wieder nichts ist, findet er absurd. «Schauen wir auf die Welt. Verläuft nicht alles in Zyklen? Tag und Nacht, der auf- und untergehende Mond, die Jahreszeiten, unsere Ein- und Ausatmung… alles ist ein Kreislauf… ein Ganzes»
Ein ähnliches Bild benutzt Krishna in der Bhagavad Gita, um Arjuna die Beschaffenheit der Seele zu erklären: Die Seele streift am Ende des Lebens den Körper wie ein altes Kleid ab. Yama, der König des Todes, stellt in der Katha-Upanishad das Höchste in Aussicht: die Erkenntnis, dass wir nicht sterblich sind, dass der Tod nichts anderes ist als ein gigantischer Irrtum. Immer wieder kommen und gehen wir, leben fort und fort von Existenz zu Existenz.
Nahtoderfahrungen
Was in den spirituellen Schriften seit jeher gelehrt wird, hat die moderne Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu erforschen begonnen. Bruce Greyson, ehemaliger Professor für Psychiaterie und Neurowissenschaften, gilt als einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Nahtoderfahrungen. Er hat in den letzten vierzig Jahren unzählige Studien zum Thema durchgeführt. Er schreibt in seinem Buch «Nahtod. Grenzerfahrungen zwischen den Welten»: «Je mehr ich über Nahtoderfahrungen erfuhr, desto mehr schienen sie nach einer Erklärung zu schreien, die über unsere begrenzten alltäglichen Vorstellungen von Geist und Gehirn hinausgeht. Diese neuen Ansichten über unseren Geist und unser Gehirn eröffnen uns die Möglichkeit zu untersuchen, ob unser Bewusstsein nach dem Tod unseres Körpers fortbestehen könnte. Das wiederum stellt unsere Vorstellung, wer wir sind, welches unser Platz im Universum ist und wie wir unser Leben führen wollen, infrage.»
Bedingungslose Liebe
Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben, sprechen oft von einem leuchtenden Licht, Frieden, bedingungsloser Liebe und dem Wiedersehen mit geliebten Verstorbenen. Bruce Greyson fand zudem heraus, dass die meisten Menschen in einem solchen Moment eine grosse Geistesklarheit haben und schneller denken – obwohl das Gehirn unter Sauerstoffmangel leidet -, die Sinne ungewöhnlich geschärft sind und sich die Zeit verlangsamt oder sich völlige Zeitlosigkeit einstellt.
Unser eigener Tod kommt. Früher oder später. Wir können versuchen, ihn aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, oder wir können uns mit ihm beschäftigen. Uns «auf das nächste grosse Abenteuer» vorbereiten, wie Professor Dumbledore Harry Potter sagt. Auch Ralph Skuban sieht es so: «Vor dem, was wir Tod nennen, vor dem Ende des physischen Seins, habe ich keine Angst. Im Gegenteil, das ist eine Freudenbotschaft. Denn ich glaube, dass es auf grossartige Weise weitergeht.»