Freestyle Yoga
Varanasi, die heilige Stadt am Ganges, ist für einen Indien-Fan wie mich einfach grossartig. Alles, was ich an Indien liebe, ist in Varanasi zehnfach vorhanden: die Freundlichkeit der Menschen, die verwinkelten Gässchen im Basar, die Gerüche nach indischem Essen und nach Räucherstäbchen, die Farben, echte und falsche Sadhus, aufdringliche Verkäufer, Buchläden, Bollywood-DVDs, Kühe, Kühe, Kühe, Hunde, Hunde, Hunde. Und – davon war ich dann doch ein bisschen überrascht – Yoga, Yoga, Yoga.
Zwar machen die wenigsten Inder:innen Yoga, trotzdem stösst man in Varanasi im Basar alle paar Meter auf ein Schild, das den Weg zu einem Yogastudio weist: im Satyalesari Cosmic Energy Centre wird neben Tantra und Astrologie auch Yoga angeboten. Fürs Siddharth Yoga Center wirbt ein Inder mit hinter dem Kopf verschränkten Füssen. Der Besitzer des Guesthouses, in dem ich wohnte, wollte mich zum Yoga Mandir schicken, unter Interessierten bekannt ist die Yoga Education Training Society, und ich landete im Yoga Training Centre.
Als ich den dunklen, feuchten Treppenaufgang hochstieg, landete ich zuerst einmal in ein paar Wohnungen, bevor ich schliesslich vor einer geschlossenen Tür stand, hinter der offensichtlich Yoga geübt wurde. Ich wartete brav, bis plötzlich eine junge Frau auftauchte, mich ansah und dann ohne Umschweife die Tür zum Yogaraum öffnete und den Yogalehrer Sunil herausholte. Der befahl mir, einzutreten, mich hinzusetzen und der zu Ende gehenden Lektion zuzuschauen.
Gerade, als ich mich in einer Ecke eingerichtet hatte, holte er mich in die Mitte des Raumes, um zusammen mit den andern zu lachen. Er habe kürzlich auch noch den Instruktor zum Lachyoga gemacht, erklärte Sunil. Da Lachen eine gute Sache sei, sollten wir nun alle zünftig lachen. Worauf er so unecht und überdreht laut lachte, dass ich zu kichern begann. Ausser mir fand das offenbar niemand lustig.
Nicht mehr zum Lachen zumute war mir zehn Minuten später, als ich alleine mit dem imposanten Mann im Raum stand, da ausser mir niemand zur 10-Uhr-Lektion aufgetaucht war. Nicht, dass ich etwas gegen eine Privatstunde habe. Doch erstens musste ich in den Strassenkleidern üben, da ich mich nirgends umziehen konnte, und zweitens fand ich auf den feuchten, leicht muffig riechenden Baumwolltüchern, die den ganzen Boden bedeckten, keinen Halt, als ich mich in der Hundestellung strecken sollte.
Mein Yoga-Ego wurde weiter zusammengestaucht, als er meinte: «Macht nichts, das ist im Anfang normal.» «An welchem Anfang?», fragte ich mich, als ich in der Kriegerstellung in meiner langärmligen Bluse still vor mich hin schwitzte. Derweil verschwand Sunil im Nebenzimmer, um seinen weinenden kleinen Sohn zu trösten. Und offenbar eine Handvoll Nüsse zu essen. Denn er befahl mich mit vollem Mund in ein nächstes Asana, von dem ich noch nie gehört hatte, das aber durchaus angenehm für meinen Rücken war. Am Ende der Lektion meinte er, ich sei fit genug, in der normalen Klasse mitzumachen. «Ha, ha, ha.» Vielen Dank! Meine Yogalehrerin-Ausbildung war also nicht für die Katz.
Am nächsten Tag tauchte ich also bereits um 8 Uhr bei ihm auf, trug die Yogakleidung unter meinen Strassenkleidern und war wirklich nicht alleine. Noch ein zweiter Tourist hatte sich bei Sunil eingefunden. Während er uns durch eine stattliche Anzahl Sonnengrüsse jagte, tröpfelten weitere Personen herein, was so lange gut ging, bis drei Frauen auftauchten, die noch nie Yoga praktiziert hatten. Kurzerhand wurde unsere Klasse unterbrochen und wir wurden in einen Raum im oberen Stockwerk geschickt, während Sunils Frau die Anfängerinnen übernahm.
Auf dem Weg nach oben hatte Sunil vergessen, wo wir stecken geblieben waren. Interessiert studierte er mein T-Shirt mit Yoga-Asanas und liess sich augenblicklich inspirieren: während wir in der Bootstellung, Navasana, ausharrten und die Beine immer heftiger zitterten, erzählte er uns von seinem Werdegang und dass er nicht einfach einen bestimmten Yogastil unterrichte, sondern alle miteinander integriert habe. «Ha, ha, ha.» Gott sei Dank, ein bisschen Lachyoga, dachte ich. Doch damit war nichts. Es ging gleich noch einmal in die Bootsstellung.
Danach packte ihn offenbar der Hunger, denn er übergab die Leitung der Lektion einer Schülerin, die schon öfters bei ihm gewesen war, und verschwand eine Weile. Frisch gestärkt schickte er uns in die Entspannungsstellung Savasana und danach in den Kopfstand, bevor er mit einigen heftigen Atemübungen endete.
«Bitte vergiss nicht, mich im Tripadviser zu loben», rief er mir nach, als ich das Treppenhaus hinunterstieg. Was ich auch tat. Denn trotz der so gar nicht europäischen Struktur der Stunde, dem abrupten Ein- und Auftauchen in beziehungsweise aus seinem Freestyle-Yoga und dem Alltag einer indischen Grossfamilie, der immer wieder den Ablauf störte, fühlte ich mich nach der Lektion grossartig. Yoga tut einfach gut – egal, in welcher Form.