Leben heisst lieben lernen
Dschalal ad-Din Rumi (1207-1273) wirkt auch 750 Jahre nach seinem Tod nach, auch in der Yogawelt. Zitate aus den Gedichten des persischen Mystikers werden oft und gerne zitiert. In Yogastunden, auf Hochzeitseinladungen oder als Einstieg in Meditationen: «Du bist kein Tropfen im Ozean, du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen» zum Beispiel. Oder: «Jenseits der Vorstellungen von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort werde ich dich treffen.»
Ahmad Milad Karimi sagt in seinem schönen Buch: «Rumi stellt uns infrage. Darin besteht seine ungebrochene Aktualität. Er ist nicht belehrend, kein Schulmeister, sondern ‘Unser Meister’ (Mawlana) der Liebe. Denn Liebe, so Rumi, ist die eigentliche Schule des Lebens.»
Leben heisst lieben lernen – mit dieser Einsicht lässt sich der spirituelle und zugleich zutiefst menschliche Weg Rumis beschreiben. Er fasste das Glück und den Schmerz der Liebe in berührende Worte, die auch heute in unser Herz dringen und einen Abdruck hinterlassen. «Seine Worte sind wie ein Trost für die gebrochenen Herzen, eine Wegspur in der Dunkelheit», schreibt Karimi.
Er nähert sich dem mystischen Dichter sehr persönlich und poetisch an, stellt die von ihm selbst übersetzten Zitate in einen grösseren Zusammenhang und entfaltet so auf wundersame und zauberhafte Art das Leben und das Wirken Rumis. Der herausragende Religionsgelehrte wurde erst durch die Begegnung mit dem Derwisch Schams ad-Din zum mystischen Dichter: «Die Begegnung mit Schams war für Rumi unerwartet, ausserordentlich und zugleich wegweisend. Mit dieser Begegnung erfährt seine Biografie ihren entscheidenden Bruch. Was danach kam, ist nicht mehr linear erzählbar.»
Rumi wurde im heutigen Afghanistan geboren und erlebte als Kind, wie seine Familie von einem Ort zum andern zog, von Persien bis nach Zentralanatolien – wahrscheinlich auf der Flucht vor der mongolischen Schreckensherrschaft. So war Rumi zeitlebens ein Reisender, ein Heimatloser. Die Reise hat er nie als Abenteuer oder Erkundungsreise betrachtet. Vielmehr hat sie für ihn eine existentielle und spirituelle Bedeutung: Alle und alles befinden sich auf der Reise zu Gott. Wo wir auf dieser Reise zu Gott allerdings stehen, ist uns nicht bekannt.
Von Ort zu Ort zu reisen hat Rumi verwandelt. Er fragt deshalb: «Wer bist du?» Diese Frage führt einerseits ins Innere, leuchtet das Ich aus. Zugleich fragt er, wer denn diese Frage stellt und wer es ist, der darauf antwortet. Hier zeigt sich die Vielschichtigkeit Rumis, der in seinem Diwan (Gedichtsammlung) schreibt: «Ich fragte: ‘Wer bist du?’, er sagte: die Sehnsucht aller. Ich fragte: ‘Wer bin ich?’, er sagte: die Sehnsucht der Sehnsucht.»
Die so häufig verwendeten Kurz-Zitate werden der Tiefe und Vielschichtigkeit des Sufi-Mystikers nicht wirklich gerecht und werden wahrscheinlich oft gar nicht richtig verstanden. Mit diesem wunderbaren Buch, setzt Ahmad Milad Karimi einen Gegenpunkt und erlaubt den Leser:innen, sich in die Welt Rumis hineinfallen zu lassen, noch tiefer berührt zu werden – und manchmal auch auszuhalten, dass einiges nicht leicht verständlich ist. Die schönen Kalligrafien von Iyad Shraim unterstreichen und bereichern diese zutiefst spirituelle Reise durch Rumis Sein.
Rumi. Du wurdest mit Flügeln geboren. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Ahmad Milad Karimi. Mit Kalligrafien von Iyad Shraim. Patmos Verlag 2023. 136 Seiten.