Khalil Gibran - der Brückenbauer
1923 hat der libanesische Dichter Khalil Gibran unter dem Titel «Der Prophet» die Reden des Propheten Almustafa veröffentlicht. Er hat damit ein Meisterwerk geschaffen, das bis heute durch seine Tiefe und Weisheit berührt. An Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen wird gerne aus dem «Prophet» zitiert und damit oft ein Samen gesetzt, der zu neuem Denken anregt. Zum Beispiel:
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Als Zwölfjähriger emigrierte Gibran mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Boston, wurde drei Jahre später für seine Ausbildung nach Beirut geschickt und kehrte 1902, nach dem Tod seiner jüngeren Schwester, zurück in die USA. Er studierte Kunst in Paris und kam mit syrischen politischen Denkern in Kontakt. 1911 liess er sich in New York nieder und veröffentlichte sein erstes Buch auf Englisch.
Sein Pendeln zwischen Ost und West schlug sich in «Der Prophet» nieder, an dem er 25 Jahre lang arbeitete. Die kunstvollen Reden des Propheten Almustafa sind sowohl von den Lehren Jesus als auch von Mohammed und dem Koran geprägt ist. Gibran war ein Brückenbauer und setzte sich immer für das Neben- und Miteinander der Religionen ein, was sich in seiner Spiritualität niederschlug.
Im Buch äussert sich der Prophet Almustafa zu den wesentlichen Fragen des Lebens, bevor er nach zwölf Jahren des Wartens endlich das Schiff besteigen kann, das ihn in seine Heimat zurückbringen soll. Seine 26 Reden behandeln das, «was zwischen Geburt und Tod ist»: Es geht um die Liebe, um Schuld und Sühne, Zeit und Vergnügen bis hin zu Beten und Tod.
«Der Prophet» ist ein Buch, das man gerne immer wieder aufschlägt, um sich berühren zu lassen oder zu einem bestimmten Thema eine neue Perspektive zu erhalten. Nun hat der Patmos Verlag dem Werk zum hundertjährigen Jubiläum eine zusätzliche Tiefe verliehen: In der von Gotthard Fermor bibliophil gestalteten Ausgabe zum Lesen, Schauen und Hören finden sich nicht nur ausdrucksstarke Porträts des Fotografen Klaus Diedrich. Auf der beigefügten CD liest Gotthard Fermor zudem den gesamten Text vor, umrahmt von der stimmig komponierten Musik von Josef Marschall.
Diese Ausgabe ist eine Einladung zum Zuhören. «Genau darum soll es also in diesen zugelärmten und beschleunigten Zeiten (1923 wie 2023) gehen: eine Haltung des Zuhörens einzuüben, die mit den Texten der Stimme und dem Lied des Lebens Raum gibt», schreibt Fermor im Vorwort.
Damit verstärkt das Buch die Intention von Khalil Gibran: Jede Rede beginnt mit dem Satz «Sprich uns von…»
Es lohnt sich hinzuhören.
Khalil Gibran. Der Prophet. Herausgegeben und gelesen von Gotthard Fermor. Musik Josef Marschall, Fotos Klaus Diederich. Patmos Verlag 2023.