Tantra: Alle Aspekte des Lebens feiern
Die Art, wie heutzutage – besonders im Westen - Yoga praktiziert wird, hat sich gegenüber früher stark verändert. Trotzdem kann er in vielerlei Hinsicht auf die klassische Tantrik-Tradition zurückgeführt werden. Der spirituelle Lehrer und Sanskritgelehrte Hareesh Christopher Wallis betont in seinem fundierten Buch «Licht auf Tantra», dass die weitverbreitete Idee falsch sei, der moderne Yoga sei aus der vortantrischen Tradition hervorgegangen.
Diese Tradition des Yoga wird in Patanjalis «Yoga Sutra» repräsentiert, das die frühen Sichtweisen des Yoga zusammenfasst. Es ging darum, den Praktizierenden von allem zu befreien, was weltlich ist: die Sinne kontrollieren, körperliche Bedürfnisse ignorieren, den Atem beherrschen. Der Mensch sollte der Welt entsagen, sich von seinem Körper lösen und zurückfinden ins reine Bewusstsein. «Da Patanjalis Text nach dem 12. Jahrhundert in Indien nicht mehr weit verbreitet war, kann man mit Sicherheit sagen, dass alles, was wir von seinen Gedanken in der Hatha-Yoga-Tradition finden, dort durch die Tantrik-Tradition weitergegeben wurde», schreibt Wallis.
Der Körper ist ein Tempel
Die tantrische Tradition hingegen ist der Welt zugewandt und ehrt den Körper als Tempel – als Ausdruck des Göttlichen und zugleich als ein wichtiges und notwendiges Mittel, um das Leben in all seinen Formen zu erfahren. Deshalb entwickelte der bekannteste Shaiva Tantrik-Guru Matsyendra mit Hatha-Yoga einen vollständigen spirituellen Pfad aus Pranayama (Atemübungen), Meditationen und über 84 yogischen Haltungen (Asanas), um Kundalini, die spirituelle Energie, zu aktivieren und zu erhöhen. Wallis betont, dass fast alle diese Elemente ausdrücklich aus dem Shaiva-Tantra abgeleitet wurden.
Der Begriff «klassisches Tantra» bezieht sich auf die Blütezeit der tantrischen Bewegung, die im 9.-12. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und einen grossen Einfluss auf indische Religionen hatte. Klassisches Tantra ist eng verbunden mit dem non-dualen Shivaismus. Die aus Nordindien stammende Frömmigkeitsbewegung hiess alle Menschen willkommen – egal welchen Geschlechts oder welcher Kaste – und sah alle Praktizierenden als von Natur aus gleich an.
Tantra-Praktizierende waren nicht verpflichtet, ihre Arbeit, ihren Besitz oder ihr Familienleben aufzugeben. Tantra war hauptsächlich ein Pfad für «Haushälter»; Asketen, Mönche und Nonnen waren in der Minderheit. Die damaligen Praktizierenden hatten also mit ähnlichen Herausforderungen des täglichen Lebens zu kämpfen wie wir heute. Das erklärt, wieso die Lehre so zeitlos und zugleich modern ist: Sie bringt die Spiritualität auf radikale Weise mitten ins Leben und umarmt dieses in all seinen Facetten.
Alles ist göttlich
Das non-duale Shaiva-Shakti-Tantra geht davon aus, dass es nur eines gibt: das Göttliche in verschiedenen Ausprägungen. Dabei wird Shiva als reines Bewusstsein verstanden, der ultimative Grund des Seins, während Shakti als die fliessende Energie das gesamte manifestierte Universum ausmacht.
Ziel der tantrischen Praxis ist, die Göttlichkeit in und als alle Dinge zu erfahren. Es geht nicht darum, nach höheren Bewusstseinszuständen zu streben, sondern sich der Ganzheit des Seins im Hier und Jetzt gewahr zu werden. In jedem Moment findet die gesamte göttliche Realität vollständig ihren Ausdruck.
Damit wird auch deutlich, dass Tantra nichts abspaltet. Schmerz und Freude, Glück und Leid, Licht und Dunkel sind gleichwertig. Es gibt kein Gut und Böse. Alles, was gerade geschieht, ist so göttlich, wie es nur sein kann. «Göttin liebt die gesamte Schöpfung, die Sie selbst ist, und da du nicht von Göttin getrennt bist, hast auch du die Fähigkeit, die gesamte Realität zu lieben. Dies ist ganz klar ‘die harte Nuss’ der non-dualen Philosophie», sagt Wallis. Wir können nicht so tun, als habe etwas sogenannt «Negatives» nichts mit uns zu tun. Denn das Tantra sagt: «Du bist nicht nur Teil des Ganzen, du bist das Ganze.»
Radikale Freiheit erleben
Ein schönes Bild für diese Weltsicht ist das Symbol Yin und Yang. Das Eine ist immer im Anderen angelegt. Wir können die Welt nur durch diese Polarität erfahren. Wir wüssten nicht, was Licht ist, wenn wir die Dunkelheit nicht kennen würden. Im Tantra geht es um die Integration der zwei Seiten einer Medaille. Wer um einen verstorbenen geliebten Menschen trauert, kann in diesem Schmerz die tiefe Liebe in einer andern Form erkennen. Denn wenn wir nicht aus vollem Herzen geliebt haben, können wir auch nicht aus vollem Herzen trauern.
Das erklärte Ziel des Yoga ist radikale Freiheit. Doch wir können nur dann frei sein, wenn wir der ganzen Welt die Freiheit geben, genauso zu sein, wie sie ist. Wallis schreibt: «Wenn du dem, was ist, von ganzem Herzen zustimmst, dann kämpfst du nicht länger um eine vermeintlich bessere Situation oder wartest sogar darauf. Deshalb bist du frei, dich voll und ganz auf das einzulassen, was genau jetzt geschieht.» Tantra lehrt uns, unser Bewusstsein auszudehnen, nicht in engen Vorstellungen steckenzubleiben – und damit die Fülle des Seins zu erleben.
Christopher Wallis. Licht auf Tantra. Die Philosophie hinter dem modernen Yoga. O.W. Barth Verlag 2023.